Mir scheint, dass das
auch heute nicht viel an Aktualität eingebüsst hat. Auch heute spielen Begriffe wie Moral und Anstand eine zentrale Rolle im kleinbürgerlichen Diskurs. Auch dieser Tage setzt der Bürger maßgeblich auf Aussendarstellung und materielle Inszenierung, um vermeindliche gesellschaftliche Akzeptanz zu erlangen. Auch die Gegenwart ist durch ein Kleinbürgertum geprägt, welches den Wert gesellschaftlicher Akzeptanz an den Werturteilen der Umgebung festmacht. Salopp gesagt: Das Gerede anderer Leute wird zur wichtigsten Kategorie, wenn es um die Normierung eigener Verhaltensmuster geht. Fast schon zwangsläufig bleiben dabei Heuchelei, moralische Verfehlungen und in letzter Konsequenz persönliche Katastrophen nicht aus. Es sind diese, sich meist im Verborgenen ereignenden Tragödien, die den Kleinbürger nun wiederum zwingen, diese Art von persönlichen Schicksalsschlägen zu rationalisieren und zwar so, dass sein Selbstbild nicht erschüttert wird und seine zur Schau getragene Fassade nicht ins Wanken gerät. Diese Formen von Tragödien und Verstrickungen werden deshalb so gern in Kultur und Kunst, vor allem aber im darstellenden Spiel verarbeitet, weil sie sich eben nicht auf der grossen politischen Bühne manifestieren. Sie bestimmen den bürgerlichen Alltag, und es bedarf besonderer Ausschweife und schrecklicher Verbrechen, damit dieser Teil unserer Wirklichkeit ins kollektive Massenbewusstsein dringt.
Wer nicht solange warten kann oder will, dem möchte ich mit Nachdruck
Tragödie
ans Herz legen. Das starre Festhalten an überkommenen Normen, gepaart mit der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, lassen die hier skizzierte bürgerliche Idylle langsam aber unausweichlich in sich zusammenbrechen. Die Protagonistin in diesem Werk steuert unaufhaltsam und unweigerlich auf ihren Untergang zu. Die sich anbahnende Katastrophe und Zuspitzung des Konfliktes sind in jedem Akt dieses Dramas präsent, und selbst dann, wenn eine Lösung jenseits der Tragik möglich scheint, ist dem Leser doch klar, dass der Preis der moralischen Gerechtigkeit für alle Beteiligten zu hoch ist.
Dieses Werk eigenet sich hervorragend für die Eigen- und Selbstreflexion, und dafür mag der eine oder andere über die Feiertage jede Menge Zeit haben. Wem das Lesen des Werkes zu zeitraubend oder anspruchsvoll ist, dem sei diese hervorragend für das Radio adaptierte
Hörspielfassung aus dem Jahre 1951 empfohlen.
In diesem Zusammenhang sei noch auf einen
verwiesen, welchen ich vor einigen Jahren selbst gesehen habe, und welcher mich nachhaltig beeindruckt und beschäftigt hat. Dieser Film wirft einen unbestechlichen Blick hinter die Fassade des Deutschen Bürgertums am Vorabend des ersten Weltkrieges und entlarvt dessen moralische Scheinheiligkeit. Auch auf die Gefahr hin hier ins Schwemmen zu kommen, aber das ist wahrlich ganz grosses Kino.
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hier.