1979: Ein Jahr im Schatten von Revolutionen

“Wer mit 19 kein Revolutionär ist, der hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, der hat keinen Verstand.” Theodor Fontane

“Die Krankheiten, die das Wachstum der Menschheit kennzeichnen, nennt man Revolution.” Friedrich Hebbel

Porträt Karl Marx von John Mayall 1875.

Es ist wohl das Privileg von Dichtern und Philosophen, uns mit solchen anrührenden Zitaten zu begeistern. Zumindest die Geschichtswissenschaften bleiben uns eine klare Antwort auf die Frage schuldig, welche Rolle Revolutionen in menschlichen Gesellschaften spielen. Schon bei der Begrifflichkeit kann es problematisch werden, denn es ist schwierig einen Konsens darüber herzustellen, welche Art von gesellschaftlichen Umwälzungen sich überhaupt als Revolutionen bezeichnen lassen. So hat die

Marxistische

als auch die

Neomarxistische

Geschichtsschreibung stets den Klassenkonflikt zwischen den Besitzenden, also der

Bourgeoisie und den Arbeitern, dem

Proletariat

als den zentralen Widerspruch kapitalistischer Ökonomien ausgemacht. Die von Marx entwickelte Dialektik entwirft ein Geschichtsbild, in welchem die Produktivkräfte (die Arbeiter) sich durch ein sich stetig weiterentwickelndes Klassenbewusstsein emanzipieren und letztendlich das herrschende wirtschaftliche System durch eine revolutionäre Umwälzung überwinden. Die klassische Marxistische Geschichtslehre sieht keinen anderen Weg, die Widersprüche der kapitalistischen Ökonomie zugunsten der ausgebeuteten Massen aufzulösen. Revolution im Marxistischen Sinne ist also nicht nur ein positiv besetzter Begriff im Klassenkampf, sondern er ist eine Notwendigkeit zur Überwindung kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung.

Angesichts des real existierenden Sozialismus, und postkolonialer Staaten vor allem in Afrika, welche zumeist diktatorisch und autoritär regiert wurden, hatten Neomarxisten neue Theoriegebäude zu erschaffen, welche zudem einer gewissen Zähmung und Reformfähigkeit kapitalistischer Wirtschaftssysteme Rechnung tragen mussten. Doch blieb auch hier der Kernbestand der Marxistischen Theorie unangetastet. Auch wenn sich die von Marx beschriebenen Klassen über die letzten 200 Jahre stark ausdifferenzierten, und, will man dem Ansatz von Marx hier weiter folgen, sich ein wirkliches Klassenbewusstsein innerhalb der Arbeiterschaft nur fragmentiert und rudimentär entwickeln konnte, so blieb der Kernbestand seiner Lehre auch im Neomarxismus weitgehend unberührt. Die Geschichte wird auch weiterhin als eine Geschichte von Klassenkämpfen erzählt. Auch wird die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaften zumindest langfristig als unvermeidlich angesehen; Reformen von oben und folglich innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung sind demnach nur die Versuche des politischen Überbaus Symptome zu lindern. Nur die Errichtung einer neuen Wirtschaftsordnung, welche zwangsläufig eine neue politische Ordnung nach sich ziehen muss, kann die Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften zum Nutzen aller auflösen.

Marx war ohne jede Frage ein brillanter Analytiker der herrschenden Machtstrukturen seiner Zeit, und seine Analysen haben nur wenig an Strahlkraft verloren, wirken sie doch bis heute selbst in die bürgerliche Geschichtsschreibung hinein. Fragwürdig ist die von Marx entwickelte Dialektik, also seine Annahme, dass es sich bei den Klassen um mehr oder weniger homogene Subjekte handelt, welche allein aufgrund ökonomischer Gegebenheiten sich nur in eine, durch wissenschaftlich verifizierbare Gesetzmässigkeiten bedingte, Richtung entwickeln könnten. Mit Wissenschaft und Empirie hat das wenig zu tun. Gibt man den Imperativ des Klassenkampfes innerhalb der Geschichtsschreibung auf, dann wird der Revolutionsterminus plötzlich sehr

schwammig. Hauptsächlich lassen sich zwei unterschiedliche Denkansätze postulieren. Die einen meinen, dass Revolutionen nichts weiter als Unfälle der Geschichte sind. Da sie spontane, oftmals unvorhersehbare Massenaufstände mit sich bringen, können sie auch keinen wie auch immer gearteten Gesetzmässigkeiten unterliegen. Sie beschreiben einen gesellschaftlichen Ausnahmezustand, welcher sich durch den völligen Zusammenbruch des bis dahin funktionierenden Herrschaftssystems auszeichnet. Meist kommen Revolutionen nicht ohne Gewalt aus, und sie müssen im Ergebnis eine andere, neue politische und wirtschaftliche Ordnung hervorbringen. Daher hat es wahre Revolutionen in der Geschichte weitaus weniger gegeben, als man durch den häufigen unreflektierten Gebrauch des Begriffes meinen könnte.

Eine zweite, offenbar weniger verbreitete Auffassung teilt wesentliche Definitionskriterien, aber hier wird davon ausgegangen, dass Revolutionen wiederkehrenden Zyklen unterliegen. So trägt eine jede Revolution bereits den Keim der Nächsten in sich. Das Ereignis Revolution versucht man in beiden Erklärungs- und Definitionsversuchen weitestgehend wertneutral zu behandeln. In der bürgerlichen Geschichtsschreibung wurden Revolutionen zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden gewertet. Mit dem Siegeszug des

Neoliberalismus

welcher seinen Anfang in den 1970er und 1980er Jahren nahm, und mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in den Ostblock-Staaten schien vielen der Revolutionsbegriff politisch und gesellschaftlich diskreditiert zu sein. Als der US-Amerikanische Politikwissenschaftler

Francis Fukuyama

sich in den 90er Jahren darauf verstieg das “Ende der Geschichte” herbeischreiben zu wollen, gab es für Revolutionen keine Notwendigkeit mehr. Jedoch hat die drohende Klimakatastrophe, die aufbrechenden wirtschaftlichen Konflikte innerhalb westlicher Nationalstaaten und die Ungewissheit über die Rolle und Bedeutung neuer Technologien für unser Zusammenleben dem Revolutionsgedanken eine unerwartete Renaissance beschert. So fragt man sich heutzutage bereits, ob und inwieweit die gegenwärtigen gesellschaftlichen Machtstrukturen geeignet sind, auf diese Fragen adäquate Antworten zu finden. So werden Revolutionen plötzlich wider als mögliche Konsequenz eines Versagens unserer wirtschaftlichen und politischen Eliten gehandelt.

Gioconda Belli spricht auf der Leipziger Buchmesse über ihre Novelle „Mondhitze“. 2016

Wenn Revolutionen tatsächlich keinen beweisbaren historischen Gesetzmässigkeiten oder mit Regelmässigkeit wiederkehrenden Zyklen unterliegen sollten, dann müssen sie ihrem Wesen nach

ergebnisoffene Prozesse sein. Das Jahr 1979 kann gleich mit zwei Zäsuren aufwarten, mit denen sich diese Annahme untermauern lässt. Es waren die Revolutionen im

Iran

und in

Nicaragua,

die nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die politische Gemengelage innerhalb ihrer Regionen hatten, sondern sie beeinflussten auch die geostrategischen Kalkulationen der Supermächte.

Anlässlich des 40 Jahrestages der sogenannten Islamischen Revolution im Iran wird grade dieses Ereignis auch in der westlichen Öffentlichkeit häufig diskutiert. Schon die Begrifflichkeit, welche zumeist als gegeben angesehen wird, greift im Bezug auf den Iran viel zu kurz, denn es wäre angemessener von der Iranischen und nicht von der Islamischen Revolution zu sprechen. Wie bereits erwähnt sehen viele Historiker Revolutionen als ergebnisoffene Ereignisse an, und so war die Errichtung einer Islamischen Republik im Iran mitnichten ausgemacht. Ganz im Gegenteil: Vor allem im Frühstadion der Revolution wurde sie hauptsächlich vom säkular orientierten Iranischen Bürgertum getragen, und die Rolle der Islamisten, wenn auch bereits unverkennbar und einflussreich, blieb umstritten. Als Massenbewegung vereinigten sich während der ersten Phase der Iranischen Revolution eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen und Aktören: Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten, Feministen, Republikaner und Islamisten. Die Einigkeit gegen die bestehende Ordnung ermöglicht erst die Massenbewegungen, die lang tradierte Herrschaftssysteme zum Einsturz bringen können; es gibt wohl keine Revolution, in welcher diese Einigkeit konstruktiv zum Errichten neuer politischer Verhältnisse genutzt werden könnte, denn in letzter Konsequenz würde man dann schon nicht mehr von revolutionären Veränderungen sprechen können.

Mit welch unterschiedlicher Dynamik sich Revolutionen entfalten können wird am Beispiel Nicaraguas deutlich, denn hier führte sie zu völlig anderen gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch hier wurde der Sturz der

Somoza-Diktatur

durch die

Sandinisten

nur dadurch ermöglicht, dass die Revolution als Massenbewegung von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurde, und auch hier zerbrach der Konsens erst nach der Beseitigung der alten Diktatur. Vielleicht war die Revolution in Nicaragua auf den ersten Blick etwas weniger ergebnisoffen als diejenige im Iran und wirkt organisierter, aber auch ihr Erfolg in der Beseitigung einer Herrschaftsform und die Errichtung einer Neuen war nur durch den Massencharakter der Proteste möglich, und auch hier hätte es möglicherweise Alternativen zur Alleinherrschaft durch die Sandinisten gegeben. Im Falle Nicaraguas ist allerdings der Umstand zu bedenken, dass die Revolution nach ihrem Erfolg mit einer massiven

Bedrohung

zu kämpfen hatte, und man darf nicht vollkommen ausser acht lassen, dass die Contras von den USA massiv unterstützt worden sind. So schienen selbst Gerüchte über eine mögliche Invasion der USA in jener Zeit nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. Das ist keine Entschuldigung für die Diktatur, welche die Sandinisten bis 1990 errichtet hatten, aber es sind mögliche Erklärungsmuster für das Verhalten des neuen Regimes. Dass die Sandinisten eine Bewegung mit demokratischen Defiziten geblieben ist, scheint sich in jüngster Zeit auf besonders tragische Weise zu bestätigen.

So gehört die Nicaraguanische Schriftstellerin

Gioconda Belli

zu denn wohl tiefgründigsten Beobachtern der gegenwärtigen Ereignisse in dem mittelamerikanischen Land. Aktiv hat sie in den 1970er Jahren gegen das Somoza-Regime gekämpft und begrüsste die Revolution des Jahres 1979. Nach der Einführung der Demokratie 1990, und nach der Wahlniederlage der Sandinisten im selben Jahr setzte sich Belli für eine Erneuerung der Bewegung ein, um wieder mehrheitsfähig zu werden. Bei diesem Versuch wurde sie mit vielen Anderen ihrer Mitstreiter innerhalb der Bewegung von

Daniel Ortega

ausgebremst. Nach seiner erneuten Wahl zum Präsidenten des Landes im Jahr 2006 wurden die noch jungen und schwachen demokratischen Institutionen nach und nach völlig ihrer Funktionen beraubt. Während das Land zur Diktatur unter Ortega zurückgekehrt ist, liegt die Wirtschaft danieder, und Parallelen zu

Venezuela

drängen sich auf. Auch wenn Venezuela aufgrund seiner Erdölvorkommen strategisch für den Westen wesentlich bedeutsamer und interessanter ist als Nicaragua, so steht die Diktatur, welche durch Ortega errichtet wird, der von

Maduro

in nichts nach. Im Gegenteil: laut

Belli

ist die von Ortega errichtete autoritäre Herrschaft weitaus schlimmer und fortgeschrittener als die in Venezuela. Man will kein Zyniker sein, aber man darf sich schon fragen, warum der Westen so besessen ist grade Maduro zu stürzen und muss unweigerlich an die Erdölvorkommen in Venezuela denken.

Belli glaubt, dass das Regime Ortega innerhalb der breiten Bevölkerung keinerlei Rückhalt mehr hat, und das trotz der Tatsache, dass der Wiederaufstieg Ortegas nur durch eine Allianz mit den konservativsten Kräften innerhalb der Katholischen Kirche Nicaraguas möglich war.

Das revolutionäre Erbe ihres Landes werde, so ist Belli überzeugt, zum Sturz Ortegas und der Wiederherstellung demokratischer Strukturen führen. Darin, so glaubt die Schriftstellerin, unterscheide sich Nicaragua von Venezuela und zwar fundamental.

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