Das Berlin der Kinder vom Bahnhof Zoo: Eine Audio-Dokumentation

Natürlich können Drogen die künstlerische Arbeit befeuern, das weiss man von Göthe, Freud Bukowski und vielen anderen. Aber die haben eben auch die Regel befolgt: Im Rausch schreiben, nüchtern gegenlesen.

Udo Lindenberg

Ich würde eigentlich gern gepflegt Drogen nehmen, aber ich habe so wahnsinnige Angst vor Sucht und schlechten Spritzen und Gesindel, das mich erpresst.

Harald Schmidt

Man darf Drogen nicht glorifizieren. Ich kenne genug Leute, die von ihren Trips nicht zurückgekehrt sind. Die sprangen aus dem Fenster, mussten feststellen, dass sie keine Flügel hatten und knallten auf den Bürgersteig.

Paul McCartney

Bearbeitet der Journalist einen nichtfiktionalen Sachverhalt mit literarischen Stilformen, dann handelt es sich zumeist um eine Reportage oder ein Feature. Sie werfen Schlaglichter auf die weniger ausgeleuchteten Plätze und Nischen unserer Gesellschaft. Nicht die vermeintlich objektiven Berichte, sondern Schattendasein und personifiziertes Leid fesseln Leser, Zuschauer und Zuhörer. Die schlechten Geschichten sind und bleiben die Besten. Am 8. Februar 1978 beobachtete der Berliner Journalist Horst Rieck einen Prozess vor dem Amtsgericht Moabit. Schon seit einiger Zeit hatte er über Beschaffungskriminalität und Kinderprostitution im Drogenmilieu recherchiert. Angeklagt war ein Mann, der sich des sexuellen Missbrauchs minderjähriger schuldig gemacht haben soll. Hier trifft Rieck auf ein 15-jähriges Mädchen, das schon bald Geschichte schreiben wird. Auf die Frage, ob sie ihm etwas über das Thema Kinderprostitution sagen könne, antwortet Christiane schlicht: „und ob.“ Das geplante Treffen sollte nur zwei Stunden dauern, doch aus Stunden werden Monate. Die Gespräche, die Horst Rieck und sein Kollege Kai Hermann mit Christiane führen, werden eine Nation und dann die ganze Welt erschüttern. Was folgte ist Geschichte. Die Reportage, das Buch und die Verfilmung verwandeln Christianes junges Leben in einen Mythos. Ihr Kampf mit der Sucht macht aus ihr eine Antiheldin, deren Strahlkraft auch heute noch gern genutzt wird, um aus ihr ein Symbol für einen Paradigmenwechsel in der deutschen Drogenpolitik zu machen. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg, und auch heutzutage widerstrebt es vielen in unserer Gesellschaft, auf den Pfaden der Veränderung weiter voranzuschreiten.

Weltweit niemand musiziert so melodisch und harmonisch auf der Klaviatur von Anstand und Moral wie der deutsche Kleinbürger. Gründlichkeit und Fleiß sind sein Pathos. Sitte ist seine Religion. Außerdem ist der deutsche Spießer ein begnadeter Voyeur, und ein Voyeur labt sich am Leid anderer nur solange, bis die eigene moralische Überlegenheit gesichert scheint. Der Biedere lässt sich von den Irrlichtern unserer Zeit den Weg weisen; sie sind sein Leuchtfeuer auf den verworrenen Pfaden der Moral. Endlich hat sich auch das kleine Fritzchen aus seinem Versteck getraut. Wie eine Raubkatze bereit zum Angriff schleicht sich der kleine Mann aus der Deckung. Verstohlen sieht er sich um – niemand soll es wissen, und niemand darf es erfahren. Zaghaft zunächst, und dann doch mit voller Leidenschaft und Inbrunst, riskiert er einen Blick ins Schaufenster der Zeitgeschichte. Er verharrt und kommt sich vor wie ein in der Sahara gestrandeter Polarbär. Faszination keimt in ihm auf, nur um dann Betroffenheit zu weichen. Betroffenheit weicht Abscheu und Empörung. Ja, auf das Gaffen versteht sich das Fritzchen bereits. Aber sorgt Euch nicht, denn die Welt der Kinder vom Bahnhof Zoo liegt hinter den Fenstern und schützenden Mauern unserer Städte. Das ist wahrlich nicht die Welt unseres Fritzchens. Er spürt, dass er in Sicherheit ist. Irgendwann später hat sich selbst das gaffende Fritzchen sattgesehen. Auch das Glotzen ist Schwerstarbeit für einen Philister. Jetzt erst erstrahlt er in der Pracht seiner ganzen Scheinheiligkeit. Sein moralischer Kompass ist geeicht; zuverlässig wird er ihn zu seinesgleichen dirigieren. Heute, das weiss das kleine Fritzchen, wird er mutig sein und wird in den Sirenengesang seiner Zunft einstimmen; er wird sich ereifern über die Verdorbenheit unserer Zeit, denn der Deutsche ist und bleibt ein unverbesserlicher Moralist.

Die Jahre vergehen, und aus dem Fritzchen von einst ist ein echter Fritz geworden. Wie wenig doch Alter mit Weisheit zu tun hat und weniger noch mit gesundem Menschenverstand. Die Schaufenster vergangener Zeiten sind nicht mehr, und auch die schützenden Mauern sind nichts weiter als ein Relikt der Vergangenheit. Ihr Staub ist das Fundament, auf dem jetzt die Ruinen unserer Zukunft gebaut werden. Fritz vermisst seine Kindheit sehr. Ein wages Gefühl latenter Bedrohung ist allgegenwärtig. Die schöne heile Welt von Fritz ist ins Wanken geraten. Traut Euch mensch – seht hin wie Fritz zuckt und sich windet. Die Kinder vom Bahnhof Zoo sind überall; sie umzingeln ihn, und sie verheissen nichts Gutes. Fliehen will er jetzt der Fritz – will im Gleichschritt marschieren, ganz so wie man es ihm beigebracht hat. Doch zu seinem Entsetzen dreht er sich nur im Kreis. Endlich tut unser Fritz das, was der Deutsche in solchen Situationen seit Jahrhunderten zu tun pflegt: Er schaut auf zu denen da ganz oben und schickt Stoßgebete gen Himmel. „Tut doch was“: ruft er. „Helft uns“: jammert Fritz. Und tatsächlich, jetzt, da die Pandemie die schöne einstige Idylle zu entzaubern begonnen hat, tun sie etwas, die da ganz oben. Einen Wutbürger wie Fritz können auch sie sich nicht leisten. Zu bedauern sind sie schon die Strippenzieher unserer Zeit, denn tief im Herzen verachten sie den Fritz. Aber die Herrschenden wissen eben nur zu gut, dass sie nicht sein können ohne ihren, echten deutschen Fritz.

Der Mythos ist ein Gewächs, welches hauptsächlich im fiktionalen Schattenreich unserer Gesellschaft gedeiht. Auch die medial verklärte Gestalt der Christiane F. ist eine solche Erscheinung. Tief verankert im Wertekanon der „bürgerlichen Mitte“ ist sie ein soziales Konstrukt des Mainstreams. Dass die lange eingestaubten Tonbandaufnahmen aus dem Jahr 1978 nun erstmals einer breiten Öffentlichkeit in Form einer Audio-Dokumentation vorliegen, verdanken wir den Publizisten Clemens Marschall, Lorenz Schröter und Miku Sophie Kühmel. Zum ersten und einzigen Mal begegnet der Zuhörer Christiane, wie sie Rieck und Hermann über Monate hinweg erlebt haben. Es ist die Zeit vor dem Ruhm. So authentisch und unbefangen wie in diesen Gesprächen wird sich die damals erst 15-jährige nie wieder äussern. Obgleich gezeichnet von ihren Lebensumständen, lernen wir eine selbstbewusste, empathische, lebensfrohe und bis weilen sogar eine sehr lustige junge Heranwachsende kennen. Was überrascht und beeindruckt ist die für ihr Alter Ungewöhnliche Differenziertheit, mit der das junge Mädchen ihre Welt aber auch sich selbst betrachtet. Hier treten all die menschlichen Seiten zutage, für die der kommerzielle Medienrummel keinen Platz lässt. Die verarbeiteten Tonaufnahmen sind Dokumente deutscher Zeitgeschichte und schon deshalb von unschätzbarem Wert.

Auch für Christiane Felscherinow hat es nie ein wirkliches Happyend aller Hollywood gegeben. Die Drogen ändern sich, doch die Sucht bleibt. Der „Stoff“ ist ein ewiger Begleiter. Er verschanzt sich im Dickicht meines Unterbewusstseins. Unerbittlich bahnt er sich seinen Weg durch das Gestrüpp meiner Wünsche und Gefühle. Unaufhaltsam strebt er der Oberfläche entgegen. Wie ein Raubvogel nach getaner Arbeit zieht er majestätisch seine Kreise über den Trümmerfeldern meiner Seele. Weiden wird er sich am Öd- und Brachland meiner zerrütteten Existenz. Wir zwei sind alte Bekannte und folgen stets dem gleichen Ritual. Schon bald wird es wieder klopfen an meiner Tür. Nur einen Spalt weit werde ich sie öffnen. Mein Begleiter wird mir wie immer verheißungsvoll zulächeln. Und ich werde zögern und kämpfen, aber nur einen ganz kleinen Moment. Mit einem resignierenden Nicken teile ich ihm mit, dass die Schlacht entschieden ist. Dann werden alle Dämme brechen. ich werde die Tür nun ganz öffnen und lasse meinen ungebetenen Gast zurück in mein Leben.

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